Dezember /

06

/ 2018

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ADHS Kindern aus sozialschwachen Familien werden eher Medikamente verschrieben

lauth

Nach einer schwedischen Studie wird die Häufigkeit einer medikamentösen Behandlung bei ADHS deutlich durch das Bildungsniveau und die sozialen Lebensumstände der Eltern beeinflusst. Kinder allein erziehender Eltern und Kinder von Müttern mit niedrigem Bildungsniveau erhalten deutlich häufiger eine medikamentöse Behandlung. Diese Erkenntnis beruht auf der Untersuchung von 1,16 Millionen Kindern schwedischer Herkunft, die zwischen 6 und 19 Jahren alt waren. Die Forscher griffen auf die Daten des schwedischen National Registers vom „National Board of Health and Welfare and Statistics Sweden“ zurück. Darin werden alle Einwohner Schwedens bei ihrer Geburt oder Einwanderung mit einer zehnstelligen Nummer registriert. Das Register kann für statistische Berichte und – nach ethischer Prüfung – für wissenschaftliche Forschung verwendet werden.
Seit Juli 2005 enthält das Register auch Informationen über die Verschreibung von Psychopharmaka. So war es im Rahmen dieser Untersuchung möglich, genau festzustellen, welche Kinder eine medikamentöse Therapie ihrer ADHS erhielten.
Aufgrund der aktuellen Behandlungsmaßstäbe (National guidelines for medication of ADHD vom National Board of Health and Welfare in 2002) sollen Kinder dann medikamentös behandelt werden, wenn andere unterstützende Maßnahmen und Therapien fehlgeschlagen sind. Die Forscher setzten die medikamentöse Behandlung mit sozialstatistischen Daten der Mütter wie Alter, Geschlecht, Schulbildung, Art der Einkünfte und Erziehungssituation (allein erziehend, gemeinsame Erziehung) in Beziehung.
Im Untersuchungsjahr 2006 hatten 7.960 Kinder Psychostimulanzien verordnet bekommen. Verschrieben wurden Metylphenidat zu 87,8%, Amoxetin zu 9,2 % und Amphetamin zu 3%. Die medikamentöse Behandlung wurde besonders oft Jungen zwischen 10 und 15 Jahren zuteil. Im Vergleich zu gleichaltrigen Mädchen wurden sie etwa dreimal so oft medikamentös behandelt. Generell überwog der Anteil der Jungen mit 1.06 % der Gesamtstichprobe im Vergleich zu 0.29 % der Mädchen
In multivariaten Analysen, die das Alter der Kinder, ihr Geschlecht, das Bildungsniveau der Mutter, Alleinerziehung und Art der Einkünfte (Sozialhilfe) sowie Drogenprobleme und psychiatrische Störungen der Eltern einbezogen zeigte sich, dass drei Merkmale besonders stark mit der medikamentösen Verschreibung zusammenhängen.
Den deutlichsten Einfluss hatte das Bildungsniveau der Mutter. Niedrige Schulbildung sagte 33 % der Medikationsfälle voraus. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind Medikamente einnimmt, lag bei Müttern mit niedriger Schulbildung (0-9 Jahre Schulbesuch) 2,3-mal so hoch wie bei Müttern mit sehr hoher Schulbildung(15 Jahre). Alleinziehung sagte 14 % und Sozialhilfe 10 % der Verschreibungen bei ADHS voraus. Hingegen schlugen psychiatrische Störungen oder Drogenprobleme der Eltern mit weniger als 4 % zu Buche.
Die Autoren interpretieren diese Daten als Beleg dafür, dass die ungünstigen Lebensumstände zu einer erhöhten Alltagsbelastung führen, was bei den Kindern mehr und schwerere Auffälligkeiten entstehen lässt. Hjern und das Forschungsteam legen nahe, dass die erhöhte Medikation als Ausdruck der stärkeren Symptombelastung der ADHS Kinder zu sehen ist. Eine bessere und frühere Prävention wird gefordert.
Unser Kommentar: Für die Bewertung der Untersuchung wäre es wünschenswert, wenn die Schwere der ADHS – Symptomatik in die Berechnungen eingegangen wäre. Aber diese Angaben stehen in dem Schwedischen National Register nicht zur Verfügung. Deshalb kann nicht sicher entschieden werden, ob die Medikamente wegen der Schwere der ADHS – Störung – wie die Autoren vermuten – oder auch wegen der geringen Zugänglichkeit der Eltern für Beratungsmaßnahmen verordnet wurden.
Beispielsweise kann es sein, dass die verschreibenden Ärzte zum Rezeptblock griffen, weil ihnen Beratungsmaßnahmen aussichtslos oder auch nur zu aufwändig erschienen. In diesem Fall sollten die Beratungsmöglichkeiten für hochbelastete Eltern verbessert werden. Eine Forderung übrigens, die in Deutschland derzeit recht oft erhoben wird.
Hinsichtlich des Ausmaßes an Kinderarmut fällt auf, daß die schwedische Stichprobe vergleichsweise wenige Familie mit „Sozialhilfebezug“ aufweist. Von den 1,16 Millionen Kinder der schwedischen Stichprobe lebten 5,23% von Sozialhilfe. Im Vergleich dazu waren es im Jahre 2003 in Deutschland 7,2% aller Kinder und Jugendlichen (unter 18 Jahren; Arbeiterwohlfahrt www.awo.org), in Polen 12,1%. Offensichtlich stellen sich die familiären und sozialen Lebensbedingungen in Schweden anders als in Deutschland dar.
Hjern, G.R. Weitoft, F. & Lindblad, F. (2010). Social adversity predicts ADHD-medication in school children – a national cohort study. Acta Pædiatrica, 99, 920 – 924