Dezember /

13

/ 2019

article

antisoziales und delinquentes Verhalten bei Jugendlichen, Gen-Umwelt-Interaktion

Gene oder Umwelt? Zur Verursachung von antisozialem und delinquentem Verhalten bei Jugendlichen

Azeredo, A., Moreira, D., Figueiredo, P., Barbosa, F.

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Die Kontroverse flammt immer wieder auf. Und die Antwort fällt ganz unterschiedlich aus, je nachdem, wen man fragt. Einige Berufsgruppen favorisieren genetische und somatisch-neurologische Erklärungen; andere stellen die Umwelt in das Zentrum. Die vorliegende Überblicksarbeit fasst die derzeitigen Erkenntnisse in einer Überblicksarbeit zusammen.

Eine portugiesische Arbeitsgruppe hat soeben eine umfassende Überblicksarbeit auf der Basis von 46 Einzelstudien erarbeitet. Die Studien wurden sorgfältig ausgewählt; sie stammen aus den Jahren 1983 bis 2016. Geklärt werden soll, der Einfluss sozialökonomischer und genetischer Bedingungen auf delinquentes und antisoziales Verhalten von Jugendlichen.

Die sozioökonomischen Bedingungen beinhalten u. a. die sozialökonomische Situation der Familie, den familiären Status (verheiratet, geschieden, alleinerziehend), die psychische Gesundheit der Eltern, die Eltern-Kind-Beziehung, Erziehungsmaßnahmen, die Aufsicht über und die Fürsorge in der Kindheit, Schulleistungen bzw. Lernprobleme, Freundschaften. Die genetischen Merkmale beziehen sich auf einschlägige polymorphe Genkonstellationen wie Neurosteroide, dopaminerge Genvarianten, Serotonintransportergene oder monoamine Konstellationen.

Die Befunde lassen sich am Besten im Rahmen einer Gen-Umwelt-Interaktion interpretieren. Demnach beeinflussen Gene zwar delinquentes Verhalten. Es wird aber auch deutlich, dass sie keine „Ursache“ in sich darstellen, sondern durch Umweltfaktoren abgemildert oder verstärkt werden (sogenannte Genexpression). Als wichtigste Umweltfaktoren erweisen sich der Umgang mit delinquenten Gleichaltrigen, Leistungsprobleme in der Schule, Alkoholkonsum der Jugendlichen und familiärer Status der Hauptbezugsperson. Zudem fällt ein klarer Geschlechtsunterschied auf, wobei starke und ausgeprägte Delinquenz bei männlichen Jugendlichen durch genotypische Besonderheiten erklärt wird. Bei den weiblichen Jugendlichen hingegen wirken fast ausschließlich soziale Faktoren (hauptsächlich mangelnde Anleitung bzw. Aufsicht in der Kindheit).

Im Endeffekt plädieren die Autoren für eine differenzierte Antwort im Sinne eines „sowohl als auch“. Es ist von einer vielschichtigen Wechselwirkung zwischen genetischen Merkmalen und den untersuchten Umweltfaktoren auszugehen (sogenannte Gen-Umwelt-Interaktion).

Kommentar:

Ein weiterer Beleg für die oft schon beschriebene Gen-Umwelt-Interaktion! Beide Faktoren wirken am Zustandekommen von Delinquenz bzw. antisozialem Verhalten mit. Sogar vielschichtig und je nach Geschlecht unterschiedlich. Interessant ist, dass einzelne Umweltfaktoren nachdrückliche und gentypische Wirkung haben (etwa psychische Störungen bei einem Elternteil, mangelnde Aufsicht über das Kind). Damit gibt diese Überblicksarbeit auch Hinweise für Erziehung, Gesundheitsvorsorge, Schule und Therapie.

Azeredo, A., Moreira, D., Figueiredo, P., & Barbosa, F. (2019). Delinquent behavior: systematic review of genetic and environmental risk factors. Clinical child and family psychology review, 22(4), 502-526.