Mai /

04

/ 2022

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Warum erleben Eltern von ADHS mehr Stress als andere Eltern?

Lauth-Lebens, M., Panagl, M. & Lauth, G. W.

fragebogen_inventar-familiensituationen.pdf

Die Eltern von Patrick (11 Jahre) klagen, dass es immer wieder zu Auseinandersetzungen über eigentlich selbstverständliche Dinge kommt. Beispielsweise wenn Patrick seine Hausaufgaben machen soll, wenn gemeinsame Mahlzeiten eingenommen werden, wenn Patrick abends ins Bett gehen soll, wenn Besuch kommt oder wenn der Junge im Haushalt helfen soll. Patrick hat eine ADHS Diagnose; seine Eltern fühlen sich durch die Auseinandersetzungen belastet.

Damit teilen Patricks Eltern das Schicksal vieler anderer Eltern. Auch sie stellen vermehrte Auffälligkeiten im familiären Zusammenleben fest; auch sie fühlen sich deutlich belasteter als Eltern von unauffälligen Kindern, was durch eine Fülle von Voruntersuchungen belegt wird.

Anknüpfend an die zahlreichen bisherigen Voruntersuchungen wollten Lauth-Lebens und Kolleginnen (2022, im Druck) die Frage klären, ob es eine innere Logik der elterlichen Belastung gibt. Welche Familiensituationen sind besonders oft mit Auffälligkeiten verbunden? Warum fühlen sich die Eltern eigentlich belastet?

Die Forscher:innen befragten insgesamt 598 Eltern von Kindern zwischen 6 und 12 Jahren. Die Gruppe mit gesicherter ADHS Diagnose umfasste 237 Kinder, die Kontrollgruppe von Kindern ohne ADHS 361. Den Eltern wurde ein Familieninventar vorgelegt, das die kindliche Auffälligkeit und die elterliche Belastung in 16 familiären Standardsituationen erfragte. Zusätzlich wurden weitere Daten zum kindlichen Verhalten, der elterlichen Kompetenz, der Beurteilung des Kindes nach der Child Behavior Checklist oder dem Eltern Belastungsinventar sowie Berichte der Lehrkräfte, Auskünfte über Medikation herangezogen.

Im Ergebnis wird festgestellt, dass Eltern von Kindern mit ADHS deutlich mehr Belastung erleben als andere Eltern. Die elterliche Belastung ergibt sich aus zwei unterschiedlichen Anforderungen, denen sich die Eltern durch das Verhalten der ADHS Kinder ausgesetzt sehen:

  • Auffälligkeiten im sozialen Auftreten; z. B. wenn Sie woanders zu Besuch sind; wenn Sie Besuch haben; wenn das Kind spielt; wenn das Kind mit anderen spielt. Hierbei handelt es sich um interaktive Ereignisse ohne feststehendes Zielverhalten. Das Kind soll sich „anständig benehmen“, ohne dass von vornherein gesagt werden könnte, was das eigentlich ist. Das herauszufinden ist Sache des Kindes bzw. der flexiblen Interaktion zwischen Eltern und Kind. Es geht um flexible Anpassungen bzw. Diskriminationslernen.
  • Schwierigkeiten beim Erledigung von häuslichen Aufgaben; z. B. wenn das Kind im Haushalt mithelfen soll; beim An- und Ausziehen; im Bad. Hierbei handelt es sich um Situationen mit klar definierten Erwartungen. Das Kind soll sich „anforderungsgemäß verhalten“ und sich beispielsweise im Bad zügig zum Zu-Bett-gehen fertigmachen. Auffälliges und belastendes Verhalten bezieht sich auf die mangelnde Befolgung von Anweisungen bzw. Erwartungen.

Damit werden zwei wichtige Erziehungsbereiche angesprochen, die Kindern mit ADHS schwer fallen: 1) sich an komplexere soziale Geschehnisse anpassen können (etwa beim Besuch), 2.) Anweisungen ausführen. Beide Faktoren bilden stimmige und homogene Subskalen des elterlichen Stresserleben. Beide Bereiche sind, berechtigter Weise, oft Ziel von Elterntrainings.

Mit dem Inventar für Familiensituationen können beide Anforderungsbereiche recht schnell und zuverlässig erfasst werden.

Der Fragebogen kann heruntergeladen werden unter: fragebogen_inventar-familiensituationen.pdf

Kommentar:

Die Daten wurden an einer recht großen Stichprobe erhoben und die Belastung auf stimmige Faktoren zurückgeführt. Es handelt sich jedoch um Einschätzungen der Eltern. Interessant wären Beobachtungsstudien zum Eltern-Kind-Verhalten in der Realsituation. Beispielsweise stellen sich folgende Fragen:

  • Wie verhalten sich Eltern-Kind bei Besuchen? Wie bereiten die Eltern ein jüngeres Kind darauf vor? Wie reagieren Sie, wenn sich das Kind verunsichert, übergriffig, ungeduldig etc. zeigt?
  • Wie setzen die Eltern ihre Erwartung, dass das Kind beispielsweise den Müll runterbringen soll durch? Was sagen? Wie reagieren Sie auf Zögern oder Unwilligkeit?

Quelle:

Lauth-Lebens, M., Panagl, M. & Lauth, G. W. (im Druck, 2022). Struktur von kindlicher Verhaltensauffälligkeit und assoziierter Elternbelastung in Familiensituationen. Verhaltenstherapie, im Druck.